Life is Strange 2 – „Die Geschichte zweier Brüder“

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                                                     Getestet und verfasst von General M 

81 SCNm1dYL. SL1500 Es gibt kaum eine Fortsetzung, auf die ich zuletzt weniger sehnsüchtig gewartet habe als die zum weltweit von Fans und Kritikern gefeierten Life is Strange. Der Überraschungshit aus der französischen Entwicklerschmiede Dontnod Entertainment eroberte mit seinen wunderbaren Charakteren und einer entscheidungsreichen Geschichte rund um die Fähigkeit zur Zeitmanipulation reihenweise Spielerherzen und gilt bereits jetzt als moderner Klassiker des Genres. Auch wir vergaben dafür seinerzeit eine der höchsten Wertungen in der Geschichte von M-Reviews. Die Erwartungen für den nun endlich mit der finalen Episode abgeschlossenen zweiten Teil waren dementsprechend hoch. Ob Life is Strange 2 dasselbe Kunststück wie dem Vorgänger gelingt, beantwortet unser Test. 

              Hinweis: Sämtliches Bildmaterial wurde auf der XBOX One X aufgenommen. 

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Ein Sturm zieht auf

Noch ahnt noch niemand, dass Donald Trump in wenigen Wochen die Wahl zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika haushoch gewinnen wird. Dass sich das Land dennoch längst gespalten hat und Vorurteile gegen Menschen mit Migrationshinterung das Denken vieler konservativer Bürger vergiftet haben, muss der erst sechzehnjährige Sean Diaz immer wieder am eigenen Leib erfahren. Der Sohn eines Mexikaners und einer weißen Amerikanerin hat die ehemalige Heimatland seines Vaters noch nie betreten, hat aber im gegenwärtigen politischen Klima dennoch mit Anfeindungen und Ablehnung zu kämpfen. Trotz allem lebt die Familie ein gutes, mittelständisches Leben in Seattle, obwohl die Mutter nicht nur Papa Esteban, sondern auch den jüngeren Bruder Daniel vor Jahren im Stich gelassen hat.

Life is Strange 2 Episode 1 2

Nach einem Streit mit dem rassistischen Nachbarssohn kommt es zur Katastrophe: Der Pöbler verletzt sich aus Versehen schwer, ein zufällig vorbeifahrender Polizist geht mit gezogener Waffe auf die jungen Brüder los. In der allgemeinen Aufregung löst sich ein Schuss, der den herbeigeilten Esteban tödlich trifft. Der immense emotionale Stress über den Tod des Vaters löst zum ersten Mal Daniel´s telekinetische Kräfte aus, die nicht nur verheerende Verwüstung im nahen Umfeld, sondern auch für den Tod des Polizisten verantwortlich sind. In Panik greift sich Sean seinen bewusstlosen kleinen Bruder und tritt gemeinsam mit ihm eine abenteuerliche Flucht durch die Vereinigten Staaten an. Stetig gejagt von den Behörden und verfolgt von der immerwährenden Angst, voneinander getrennt zu werden, muss Sean nun die Vaterrolle für den desillusionierten Daniel übernehmen, der erst später realisiert, dass sein Vater nicht mehr unter den Lebenden weilt. 

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Während sich die beiden Brüder durch einen ihnen mehr und mehr feindselig gesinntes Land bewegen und hoffen, in Mexiko Zuflucht zu finden, entwickeln sich allmählich auch Daniel´s Kräfte immer weiter. Bis zum Ziel ist es allerdings ein weiter Weg, der immer wieder schwere Entscheidungen fordert. Begegnungen mit einem fremdenfeindlichen Tankstellenbesitzer, den entfremdeten Großeltern oder einer Gruppe herumstreunender Aussteiger prägen maßgeblich die Art und Weise, für welche Zwecke Daniel seine Kräfte einsetzt. Aber soll man in einem Land, dass einem kaum noch mehr zu schenken scheint als Ablehnung, wirklich noch Rücksicht auf irgendjemanden nehmen? Oder geht man am Ende trotz aller Erlebnisse einen moralischen und anständigen Weg? Diese Entscheidung obliegt einmal mehr ganz alleine dem Spieler…   

Unsichere Gefilde

Wenn Dontnod Entertainment eines mit dem Vorgänger bewiesen haben, dann ist es wohl die Fähigkeit, brisante Themen mit starken Charakteren im Rahmen einer glaubhaft nachvollziehbaren Welt inszenieren zu können. Das gelingt auch Life is Strange 2 über weite Strecken hervorragend. Die Geschichte der Gebrüder Diaz bindet den Spieler einmal mehr emotional an seine Hauptfiguren und führt dank zahlreicher Entscheidungsmöglichkeiten an kleinen und großen Punkten der insgesamt fünf Episoden zu sieben unterschiedlichen Ausgängen, welche deren jeweilige Konsequenzen nach circa 12-15 Gesamtspielzeit deutlich spürbar machen. Wie die Flucht ausgeht, liegt also ganz alleine bei euch. Was das angeht, ist man dem Konzept des ersten Teils also voll und ganz treu geblieben.

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Und doch fühlt sich Life is Strange 2 im Kern ganz anders an als die Abenteuer von Max und Chloe. Die Welt ist weitläufiger geworden, die Themen komplexer. Jede Episode führt die Geschwister an neue Schauplätze und damit zwangsläufig auch zu neuen Menschen. Das unterstreicht einerseits den Flüchtlingsaspekt der Geschichte und ist auch für die Entwicklung von Sean und Daniel von zentraler Bedeutung, sorgt andererseits aber auch dafür, dass man anders als im Vorgänger nie genug Zeit bekommt, die vielen Nebencharaktere kennenzulernen und angemessene Sympathien oder Abneigungen gegen diese entwickeln zu können. Stattdessen bleibt man mit den Gedanken hauptsächlich bei den Brüdern.

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Hier stimmt erzählerisch und in Sachen Charaktertiefe zwar alles, zumal die jeweiligen englischen Sprecher einmal mehr einen hervorragenden Job bei deren Vertonung abgeliefert haben, trotzdem vermisst man die unbestreitbare Stärke des Vorgängers, der am Ende selbst kleinste Nebenrollen hat anfühlen lassen, als wäre man bereits seit Jahren mit ihnen bekannt.Hier dagegen gilt eher „Aus den Augen, aus dem Sinn“, nur ganz wenige Figuren treten länger als über die Dauer einer Episode auf und werden später höchstens noch in Zeitungsartikeln oder kurzen Gesprächsfetzen erwähnt. Es mangelt ihnen einfach an Relevanz. Und an erinnerungswürdigen, vielschichtigen Charakteren wie Nathan Prescott, Victoria Chase oder Kate Marsh. 

Alles hat Konsequenzen

Trotzdem gelingt es den Machern auch mit dem zweiten Teil, seine Spieler mitfühlen zu lassen. Die getroffenen Entscheidungen wirken sich nicht immer unmittelbar spürbar auf das weitere Geschehen aus, zeigen sich aber früher oder später dennoch auf irgendeine Weise als bedeutsam. Die nicht vorhandene Vorhersehbarkeit ist es, die einen solche Entscheidungen nie leichtfertig treffen lässt. Man mag gelegentlich ahnen, welche Folgen es hat, Daniel´s Kräfte einzusetzen oder diese auch nur ansatzweise anderen Menschen zu offenbaren, trotzdem befand ich mich nie in einer Situation, in denen mir irgendeine dieser Entscheidungen leicht gefallen wäre. Besonders, weil sich manchmal eben auch sehr rasch zeigt, dass selbst im besten Wissen und Gewissen getroffene Auswahlmöglichkeiten schwerwiegende Folgen nach sich ziehen können. Animieren wir Daniel beispielsweise zum Fluchen, Klauen und hemmungslosem Umfang mit seinen Kräften, kann sich das ebenso rächen wie der stetige Hang zur Behutsamkeit. Das macht Life is Strange 2 gerade zum Ende hin extrem spannend und sorgt zwischendurch für viele emotionale Momente. 

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Dazwischen muss man aber auch immer wieder mit vielen Längen leben. Die Balance zwischen ruhigen und actionreichen Momenten ist wesentlich unausgeglichener geraten als noch beim ersten Teil. Nach einem starken Einstieg dümpelt beispielsweise die zweite Episode über die gesamte Laufzeit eher ereignislos vor sich hin, ehe es dann in der folgenden Episode viel zu actionlastig zugeht. Life is Strange 2 bietet viele erzählerisch starke Momente, das Verhältnis zwischen den beiden Brüdern ist wundervoll geschrieben und entwickelt sich stetig weiter. Das Tempo, in dem sich all diese Ereignisse abspielen, schwankt dabei aber für meinen Geschmack etwas zu stark. Mitunter überkommt einen gar das Bedürfnis, einfach mal für fünf bis zehn Minuten den Controller beiseite zu legen und sich mit irgendwas anderem zu beschäftigen, um wieder munter zu werden. Bis man schließlich an einen Punkt gelangt, an dem man die gleiche Handlung nur deswegen wiederholen will, um die Gedanken angesichts plötzlicher Ereignis- und Informationsfülle wieder zu entspannen. 

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Ein bisschen merkt man dem Spiel auch an, dass es unter immensem Erwartungsdruck entstanden ist. Life is Strange kam damals aus dem Nichts und liegt im Bereich der Metascores bis heute im Neunzigerbereich. Die Macher sind klar bemüht gewesen, diesen Erfolg zu wiederholen, besonders nachdem das anschließend produzierte Vampyr eher durchwachsen von Kritikern und Spielerbasis aufgenommen worden ist. Am Ende steht Life is Strange 2 seinem Vorgänger in nur wenigen Aspekten nach, schafft es aber trotz mutiger Story sowie einem toll geschriebenen Geschwisterpaar auf der Flucht nicht, einen auf die gleiche, mitreißende Weise abzuholen wie es das Setting von Arcadia Bay einst vermochte. Dafür darf man sich auf ein paar Referenzen und sogar ein Wiedersehen mit einer sehr bekannten Figur des Erstlings freuen. Dessen Magie geht hier aber dank unausgegorenem Pacing und kaum gewichtigen weil nicht dauerhaft präsenten Nebencharakteren etwas verloren. Am Ende ist aber immer noch ein tolles Adventure entstanden, an das man sich trotz einiger Schwächen einmal mehr lange erinnern wird. 

Die Technik der Telekinese

Während der erste Teil noch auf Basis der Unreal Engine 3 entwickelt worden ist, hat man für die Fortsetzung den Sprung auf deren direkten Nachfolger gewählt. Allzu groß sind die optischen Unterschiede allerdings nicht, denn der comicartige Look setzt weiterhin mehr auf Minimalismus statt auf ausufernde Effektorgien. Dennoch ist optisch einmal mehr ein sehr stimmiges, unverwechselbares Gesamtkunstwerk entstanden. Die jeweilen Umgebungen wirken detailverliebt und angenehm abwechslungsreich, und obwohl sich die Animationsqualität der Charaktere nicht mit der aktueller Hardwarekiller messen kann (und will), fügen sich die virtuellen Schöpfungen gut und glaubhaft in ihre ganz eigene Welt ein.

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Dementsprechend kurz fällt ausnahmsweise das technische Resümee aus, denn trotz des Hinweises auf Verbesserungen für die PlayStation 4 PRO und die XBOX One X ließen sich abseits einer geringfügig besseren Performance keinerlei Unterschiede zu den jeweiligen Standardmodellen feststellen, auch die teilweise langen Ladezeiten teilen sich sämtliche Modelle. Das enttäuscht ein wenig, besonders weil man bei Life is Strange: Before the Storm wenigstens noch zwischen einem Grafik- und Performancemodus wählen durfte. Sowas sucht man hier vergeblich, es bleibt bei anvisierten 30 Frames pro Sekunde. Wirkliches 4K und die doppelte Bildrate scheint ausschließlich der PC zu bieten. Dort freut man sich über ein Minimum mehr Schärfe, wirkliche Auswirkungen auf das Gameplay hat das aber ebenso wenig wie die höhere Bildrate. Schließlich haben wir es hier ja immer noch mit einem Adventure zu tun. 

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Ein konsequentes Lob muss man wie erwähnt den tollen englischen Sprechern zugestehen, die ihre Figuren durch ihre Leistungen erst mit Leben und Glaubwürdigkeit erfüllen. Eine deutsche Synchronfassung gibt es zwar auch dieses Mal nicht, dafür aber sauber lokalisierte deutsche Untertitel. Einfach nur grandios: Der Soundtrack, der seinem Vorgänger qualitativ in nichts nachsteht und einmal mehr eine unglaubliche Dynamik ins Geschehen bringt. Auch bei der Bedienung gibt es nichts zu meckern: Egal ob via Maus und Tastatur oder mit Gamepad, die Steuerung ist schnell erlernt, geht wunderbar von der Hand und kämpft lediglich in engen Innenräumen ein wenig mit Präzisionsproblemen. 

Fazit und Wertung

55957770 2311144785603906 1491509483245928448 o„Zugegeben, die hohen Erwartungen nach dem nahezu perfekt umgesetzten Vorgänger kann Life is Strange 2 auch mit der abschließenden fünften Episode nicht ganz erfüllen. Eine starke Fortsetzung ist das Abenteuer um die Geschwister Diaz und deren Flucht durch die zunehmend einwandererfeindlichen Vereinigten Staaten von Amerika dennoch geworden. Starke Hauptcharaktere und viele emotionale Momente samt spürbarer Handlungskonsequenzen stehen allerdings einem stark schwankenden Erzähltempo und viel zu schnell auf Halde liegenden Nebenfiguren gegenüber. In Sachen Adventures bekommt man in diesem Jahr aber kaum einen besseren Titel geboten, welcher trotz all dieser Schwächen immer noch einen unterhaltsamen wie ergreifenden Mix aus Fakt, Fiktion und Fantasy darstellt und einen nach dem Finale einmal mehr nachdenklich wie ergriffen zurücklässt.“ 

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PRO:

+ Stimmiger Comiclook mit abwechslungsreichen, atmosphärischen Arealen
+ Mutiger Mix aus Gegenwartsbetrachtung und Gesellschaftskritik…
+ …der trotz Fantasyelementen glaubhaft und packend vermittelt wird
+ Sean und Daniel als wunderbar geschriebene Protagonisten…
+ …die sich konsequent mit den Entscheidungen des Spielers weiterentwickeln
+ Viele emotionale, unaufdringlich platzierte Momente
+ Entscheidungen wirken sich früher oder später spürbar auf den Spielverlauf aus
+ Sieben verschiedene Enden, die zum Wiederspielen einladen
+ Guter Gesamtumfang
+ Nebenhandlung von „Captain Spirit“ wird direkt in die Hauptgeschichte eingebunden
+ Praktisches Rückspul- und Sammlerfeature
+ Zahlreiche Referenzen auf den Vorgänger enthalten
+ Ausgezeichnete englische Sprecher
+ Sauber lokalisierte deutsche Untertitel
+ Sensationell gewählter Soundtrack
+ Zugängliche Steuerung über alle Plattformen


CONTRA:

– Unausgegorenes Erzähltempo sorgt zwischendurch immer wieder für Längen
– Nebencharaktere bekommen nur wenig Zeit zur Entfaltung…
– …und werden später fast ausschließlich am Rande in die weitere Handlung eingebunden
– Vor allem in Innenräumen gelegentlich auftretende Präzisionsprobleme bei der Bedienung
– Teilweise lange Ladezeiten (Konsolen)

                                              GESAMTWERTUNG:     8.3/10

                                  MRSTORY   

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